Stellungnahme

Offener Brief zur Aussetzung von Patenten auf Impfstoffe im Rahmen der COVID-19-Pandemie

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel,

eine Aussetzung von Patenten wird aus Sicht des Bundesverbandes Deutscher Patentanwälte (BDPA) den globalen Impfstoffmangel nicht beheben. Vielmehr könnte die Aufweichung des Patentschutzes die Situation verschärfen. Darum setzt der BDPA auf Kooperationen und Lizenzen zur Steigerung der weltweiten Impfstoffproduktion. Daher begrüßen wir ausdrücklich Ihre bisherige Position zu diesem Themenkomplex und hoffen, dass Sie diese auch angesichts der aktuellen Entschließung des Europaparlaments beibehalten werden.

Als Patentanwältinnen und Patentanwälte vertreten wir nicht nur die forschende Industrie beim Schutz ihrer Erfindungen und deren Durchsetzung gegen Verletzer, sondern eben auch Unternehmen, die Patente umgehen. Deswegen sind wir keiner Seite verpflichtet und möchten zur aktuellen Debatte lösungsorientiert beitragen.

Auch der BDPA sieht mit größter Sorge das schleppende Vorankommen der Impfungen in ärmeren Ländern und die damit einher gehenden hohen Fallzahlen von Infektionen und Todesfällen. Es gibt noch zu wenig Impfstoff, das ist Fakt – die weltweit ungleiche Impfstoffverteilung ebenso. Alle Maßnahmen, die geeignet sind, die Versorgung mit Impfstoff gerade auch in den ärmeren Ländern möglichst kurzfristig für alle sicher zu stellen, müssen oberste Priorität haben. Die derzeit im Rahmen des TRIPS-Abkommens der Welthandelsorganisation (WTO), dem Übereinkommen zu handelsbezogenen Aspekten der Rechte des geistigen Eigentums, diskutierte Aussetzung des Patentschutzes bzw. der Verzicht auf dessen Durchsetzung ist aus Sicht des BDPA aber keine geeignete Maßnahme zur Steigerung der Impfstoffproduktion, wenn nicht sogar kontraproduktiv.

Den Impfstoffherstellern wird vorgeworfen, dass sie trotz öffentlicher Forschungsgelder aus Gründen der Gewinnoptimierung auf den Patentschutz ihrer Impfstoffe bestünden und damit dessen Knappheit und ungerechte Verteilung in Kauf nähmen. Doch die Patentinhaber, also die Impfstoff-Hersteller und Komponenten-Zulieferer, sind Teil der Lösung des Pandemieproblems, nicht dessen Ursache.

Die nun im Zusammenhang mit dem TRIPS-Waiver erhobenen Vorwürfe decken sich nicht mit den Berichten über Probleme bei der Impfstoffproduktion. Diese waren zunächst dominiert von der einzigartig schnellen Bereitstellung wirksamer Impfstoffe aufgrund neuester Errungenschaften im Bereich der mRNA-Impfstoffe. Nach der Zulassung der Impfstoffe wurde über Probleme der Entwickler bei der Steigerung der Produktionskapazitäten berichtet. Patente spielten dabei keine Rolle – es fehlten schlicht Rohstoffe, Einrichtungen, Infrastruktur und Personal, um die gewünschte Impfstoffmenge kurzfristig herzustellen.

Patente sind ein wichtiges Instrument zur Förderung von Innovation. Ohne dieses Instrument wäre die schnelle Entwicklung der verschiedenen COVID-19-Impfstoffe nicht möglich gewesen. Diese Erfolge basieren auf vorausgegangener jahrzehntelanger Forschung mit einer Vielzahl von Patenten. Würde man der Pharmaindustrie dieses Instrument nehmen, wäre der Anreiz eines wirtschaftlichen Erfolgs nicht mehr gegeben und damit die Grundlage für weitere Forschung entzogen. Es muss aber weiter geforscht werden, z.B. an Impfstoffen für Kinder und Medikamenten zur Behandlung von COVID-19 und Impf-Nebenwirkungen. Die zugelassenen Impfstoffe müssen optimiert und an Mutanten angepasst werden. Bei einer Aussetzung des Patentschutzes wäre diese dringend notwendige Forschung in Gefahr, denn Forschung kostet Geld.

In der öffentlichen Diskussion wird die „Freigabe von Patenten“ mit der Freigabe von unternehmensinternem Know-how vermischt. Die in einer Patentschrift enthaltene Information wird alleine niemals ausreichen, um ein komplexes Produkt wie einen mRNA-Impfstoff mit einer Vielzahl an Komponenten von verschiedenen Herstellern produzieren zu können. Hierzu ist Know-how, wie die Prozesse genau durchzuführen sind, erforderlich. Die alleinige Aussetzung von Patenten würde daher nicht ausreichen, um möglichst schnell eine weitere Produktion von Impfstoffen zu ermöglichen. Die Unternehmen, die nur die in Patentschriften enthaltenen Informationen zur Verfügung haben, müssten die Prozesse entwickeln, die zur Herstellung von Impfstoffen in ausreichender Qualität und Quantität ermöglichen. Eine Aussetzung des Patentschutzes für COVID-19-Impfstoffe wird die Patentinhaber zum einen von weiteren Investitionen abhalten und zum anderen zum Schutz des vorhandenen Produktions-Know-hows durch Geheimhaltung veranlassen, wodurch eine schnelle Bekämpfung der Pandemie verzögert und behindert wird.

Zudem hat der BDPA bisher keine Kenntnis darüber, dass Patente auf dem Sektor der Impfstoffherstellung überhaupt eine rechtliche Sperrwirkung entfaltet hätten. Angemeldete Patente, die über keine (volle) Sperrwirkung verfügen, können bis zur Erteilung von jedem Dritten genutzt werden. Es ist zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht bekannt, welche Patente im Zusammenhang mit den COVID-19-Impfstoffen angemeldet wurden. Denn Patente werden frühestens nach 18 Monaten veröffentlicht und in der Regel nicht vor Ablauf von ca. 20-24 Monaten erteilt. Auch aus diesem Grund würde eine Aussetzung von Patenten nichts bringen.

Das eigentliche Problem, die Kapazitäten der Impfstoffproduktion weltweit auszubauen, scheitert nicht am Patentschutz. Die Impfstoffproduktion lässt sich nicht beliebig schnell aufbauen, wie man am Beispiel Europa sehen kann. Auch hier haben sich die Produktionskapazitäten trotz ansässiger Patentinhaber nicht so schnell hochfahren lassen, dass kurzfristig ausreichend Impfstoff hergestellt werden kann. Schon jetzt gehen die Pharmaunternehmen Kooperationen und Lizenzvereinbarungen ein, auch mit Unternehmen in Indien. Nur besitzt nicht jedes Pharmaunternehmen auch das Know-how, um Impfstoffe, insbesondere die nach derzeitiger Kenntnis besonders wirksamen mRNA-Impfstoffe herzustellen. Ärzte ohne Grenzen geht davon aus, dass in ganz Afrika sieben Unternehmen in der Lage wären, Produktionslinien für die Herstellung von Corona-Impfstoffen aufzubauen. Voraussetzung hierfür wäre jedoch eine detaillierte Kenntnis der Zusammensetzung der Impfstoffe und Ausgangsprodukte und der Prozesse zu deren Herstellung. Dies ist alleine durch eine „Freigabe der Patente“, d.h. durch eine Aussetzung deren Sperrwirkung, selbst wenn eine solche aktuell tatsächlich bestünde, nicht zu erreichen.

Der BDPA teilt aber uneingeschränkt die Zielsetzung der Initiative, nämlich auch in den weniger industrialisierten Regionen der Welt schnell eine ausreichende Menge wirksamer COVID-19-Impfstoffe bereitzustellen. Hierfür sindKooperationen und Lizenzen das Mittel der Stunde. Der BDPA begrüßt daher ausdrücklich das Engagement Ihrer Regierung, auch außerhalb Deutschlands und der Europäischen Union die Kapazitäten für die Impfstoff-Produktion zu verbessern. Der BDPA sieht es als zielführende Maßnahmen an, die Unternehmen, die schon jetzt zugelassene Impfstoffe herstellen, dabei zu unterstützen, ihre Produktion nach eigenen Möglichkeiten zu steigern und durch Auftragsproduktionen unter Nutzung der zeitnah verfügbaren Kapazitäten, auch in Indien und Südafrika, zu erhöhen. Parallel dazu ist die Lizenzvergabe an Unternehmen, die weltweit in der Lage sind, die Impfstoffe herzustellen, ein sinnvoller Weg. Neben einer reinen Patentlizenz muss jedoch auch das betriebsinterne Herstellungs-Know-how zur Verfügung gestellt werden, was erfahrungsgemäß nur geschieht, wenn der Lizenzgeber die Anerkennung seines geistigen Eigentums erwarten kann. Nur so kann die weltweite Herstellung der Impfstoffe zeitnah mit entsprechenden Qualitätsstandards gesteigert werden. Denn jeder Mensch muss Zugang zu qualitativ hochwertigem und sicherem Impfstoff haben.

Für den Fall, dass sich Pharmaunternehmen weigern sollten, in dieser Ausnahmesituation Kooperationen und Lizenzen im notwendigen Umfang zuzustimmen, hat jeder Staat schon jetzt TRIPS-konform die Möglichkeit, im öffentlichen Interesse den Patentschutz zu begrenzen, nämlich durch das von TRIPS vorgegebene Instrument der Zwangslizenz. Ein Staat kann zudem das Benutzungsrecht direkt geeigneten Herstellern erteilen. Deutschland hat in § 5 Abs. 2 Nr. 5 Infektionsschutzgesetz der Bundesregierung die Möglichkeit eingeräumt, eine Patentnutzung im Verordnungswege einzuräumen.

Nur mit einer deutlichen Ausweitung weltweiter Kooperationen mit den Impfstoffentwicklern sowie einer schnellen und vereinfachten Lizenzvergabe auch in Bezug auf das erforderliche Prozess-Know-how ohne neue langwierige Zulassungsverfahren und ggf. erforderliche zeitaufwändige Entwicklung des Prozess-Know-hows, was bei der Nutzung von „freigegebenen Patenten“ erforderlich wäre, kann zeitnah ausreichend und qualitativ hochwertiger Impfstoff hergestellt und den Menschen zugänglich gemacht werden.
Die Bundesregierung sollte sich also weiterhin darauf konzentrieren, die Impfstoffproduzenten aktiv dabei unterstützen, neue Kooperationen und Produktionskapazitäten aufzubauen. Nur mit der forschenden Pharmaindustrie und nicht gegen sie kann diese Pandemie und können zukünftige Pandemien rasch überwunden werden.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Hans-Martin Helwig
BDPA-Präsident