Nachricht

Auslegung von Patentansprüchen durch das EPA – quo vadis?

Der vorliegende Beitrag befasst sich mit dem derzeit vor der Großen Beschwerdekammer (GBK) des Europäischen Patentamts (EPA) anhängigen Verfahren G1/24 und nimmt Bezug auf die Abhandlung von Herman Deichfuß zu diesem Thema in Heft 9/2024 der GRUR Patent.

Die von der GBK zu beantwortenden Vorlagefragen betreffen im Kern die Problematik, ob bei der Prüfung der Patentfähigkeit eines Patentanspruchs in einem Rechtsbestandsverfahren dieselbe Auslegung anzuwenden ist, wie dies in Art. 69 EPÜ und dem zugehörigen Auslegungsprotokoll für die Bestimmung des Schutzbereichs festgelegt ist. Allerdings geht es bei der Prüfung der Patentfähigkeit um die Bestimmung des Schutzgegenstandes und nicht des Schutzbereichs. Letztlich kann jedoch der Schutzbereich, der sich aus einem Patentanspruch ergibt, nur dann bestimmt werden, wenn der mittels des Patentanspruchs definierte Schutzgegenstand hinreichend eindeutig feststeht.

Bereits hieraus muss die Schlussfolgerung gezogen werden, dass in beiden Fällen, also bei der Prüfung der Patentfähigkeit eines Anspruchsgegenstandes und bei der Prüfung des Schutzbereichs eines Patentanspruchs, dieselbe Vorgehensweise bei Anspruchsauslegung angewandt werden muss. Da Art. 69 EPÜ die Anspruchsauslegung für die Bestimmung des Schutzbereichs unter Heranziehen der Beschreibung und der Zeichnung festschreibt, muss dies auch für die Bestimmung des Schutzgegenstandes gelten. Es kann dabei keine Rolle spielen, ob ein Patentanspruch aus sich heraus eindeutig ist bzw. nur deshalb der Auslegung bedarf, weil er mehrdeutig oder unklar ist.

Das EPA muss sich mit dem Schutzbereich nur dann befassen, wenn in einem Einspruchsverfahren über die Zulässigkeit von Anspruchsänderungen zu entscheiden ist. Das europäische Patent, und damit auch der Patentanspruch, darf nach Art. 123(2) EPÜ nicht in der Weise geändert werden, dass ihr Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Weiterhin darf das europäische Patent, und damit auch der Patentanspruch, nach seiner Erteilung gemäß Art. 123(3) EPÜ nicht in der Weise geändert werden, dass sein Schutzbereich über die erteilte Fassung hinaus erweitert wird.

Nach dem Regelungsgehalt des Art. 69 EPÜ muss das EPA somit die Beschreibung und die Zeichnungen bei der Bestimmung des Schutzbereichs heranziehen, wenn über eine mögliche Erweiterung des Schutzbereichs gemäß Art. 123(3) EPÜ zu entscheiden ist. Diese Bestandteile der Patentanmeldung bei der Bestimmung des Schutzgegenstands zu vernachlässigen, wenn dieselbe Anspruchsänderung unter dem Aspekt der unzulässigen Erweiterung gemäß Art. 123(2) EPÜ zu bewerten ist, ist unangebracht und könnte sogar zu unhaltbaren Ergebnissen führen, nicht nur bei der Beurteilung durch verschiedene Spruchkörper wie von Deichfuß dargelegt: Ein Merkmal könnte in einem Bestandsverfahren, wie dem Einspruchsverfahren vor dem EPA, eng verstanden und von einem Verletzungsgericht breit ausgelegt werden. Unverständlich wird es, wenn eine Anspruchsauslegung vom gleichen Spruchkörper in unterschiedlicher Weise vorgenommen wird, um einerseits die Schutzbereichserweiterung gemäß Art. 123(3) EPÜ und andererseits die unzulässige Erweiterung gemäß Art. 123(2) EPÜ zu prüfen.

In Bestandsverfahren und Verletzungsverfahren vor deutschen Gerichten wird grundsätzlich eine Auslegung der Patentansprüche unter Heranziehung der Beschreibung und Zeichnung vorgenommen. Dieser Vorgehensweise hat sich auch das Berufungsgericht des Einheitlichen Patentgerichts (EPG) in einer ersten Entscheidung angeschlossen (UPC 26. 2. 2024, CoA 335/2023; siehe hierzu auch Meier-Beck in GRUR Patent 2024, 178).

Es bleibt somit die große Hoffnung, dass sich auch die GBK dieser Auffassung anschließt und letztlich die Praxis bestätigt, die durch ihre Entscheidungen G2/88 und G6/88 vor langer Zeit vorgegeben wurde, in den letzten Jahren bei den Beschwerdekammern jedoch offensichtlich in Vergessenheit geraten ist.

Hierdurch würden Fälle vermieden, in denen europäische Patente zu Unrecht aufrechterhalten werden, insbesondere infolge eines zu engen Verständnisses eines Anspruchsmerkmals mangels Auslegung unter Heranziehen der Beschreibung und Zeichnung. Denn solche Patente müssen von Wettbewerbern unnötigerweise und mit erheblichem Aufwand in Bestandsverfahren vor nationalen Gerichten oder dem EPG bekämpft werden. Dies bedeutet einen nicht zu unterschätzenden wirtschaftlichen Schaden für den Wettbewerb.

Ebenso können Fälle vermieden werden, in denen eine nicht in zutreffender Weise vorgenommene Anspruchsauslegung zu einem Widerruf eines erteilten Patents führen würde. Dies kann beispielswiese dann geschehen, wenn ein Anspruchsmerkmal ohne Auslegung zu breit verstanden wird, und die Beschreibung keine griffige wörtliche Definition beinhaltet, die sich zur Beschränkung des Merkmals und damit zur Abgrenzung gegenüber einem Stand der Technik eignen und gleichzeitig einen für den Patentinhaber angemessenen Schutz bieten würde. Hier läge der wirtschaftliche Schaden auf der Seite des Pateninhabers.

Grundsätzlich ist die Sprache ein nur unzulängliches Mittel, eine Erfindung eindeutig und unmissverständlich zu beschreiben. Auch können verschiedene Fachleute infolge unterschiedlicher Ausbildung oder im Verlauf ihrer Tätigkeit erworbener unterschiedlicher Kenntnisse zu jeweils einem anderen Verständnis eines Patentanspruchs gelangen, dessen Gegenstand nach Art. 84 EPÜ deutlich und knapp gefasst sein muss. Auch aus dieser linguistischen Sicht ist eine in jedem Fall vorzunehmende Anspruchsauslegung geboten.

Der BDPA schließt sich daher mit Nachdruck der Auffassung an, dass auch in Bestandsverfahren bei der Bestimmung des Anspruchsgegenstandes und dessen Patentfähigkeit generell eine Auslegung eines Patentanspruchs aus der Sicht des Fachmanns unter Berücksichtigung der Beschreibung und Zeichnungen vorgenommen werden muss.

Eine Harmonisierung der Praxis des EPA mit der Praxis der deutschen Gerichte und des EPG, die einen überwiegenden Teil aller Bestands- und Verletzungsverfahren in Bezug auf europäische Patente bearbeiten, würde die derzeit bestehende Rechtsunsicherheit, hervorgerufen durch unterschiedliche Auffassungen der Beschwerdekammern, beseitigen. Ein nicht zu unterschätzender volkswirtschaftlicher Schaden würde vermieden und das Vertrauen in des europäische Patentsystem gesteigert.

Es bleibt also spannend!

Dieser Artikel von Prof. Dr. Thomas Eder und Dr. Rolf Lechner ist auf der BDPA-Mantelseite in der GRUR Patent 10/2024 erschienen.