Stellungnahme

Stellungnahme zum Verfahren G 1/24 vor der Großen Beschwerdekammer

1. Einleitendes

1.1. Die Vorlagefragen

Die Technische Beschwerdekammer 3.2.01 hat in der Sache T 439/22 mit Zwischenentscheidung vom 24. Juni 2024 der Großen Beschwerdekammer gemäß Artikel 112 (1) a) EPÜ die folgenden Rechtsfragen vorgelegt:

1.Sind Artikel 69 (1) Satz 2 EPÜ und Artikel 1 des Protokolls über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ auf die Auslegung von Patentansprüchen anzuwenden, wenn die Patentierbarkeit einer Erfindung nach Artikel 52 bis 57 EPÜ beurteilt wird?

2.Dürfen die Beschreibung und die Zeichnungen für die Auslegung der Ansprüche zur Beurteilung der Patentierbarkeit herangezogen werden und, falls ja, darf dies generell getan werden oder nur, wenn der Fachmann einen Anspruch bei isolierter Betrachtung für unklar oder mehrdeutig hält.

3.Darf eine Definition oder vergleichbare Information, die zu einem in den Ansprüchen verwendeten Begriff in der Beschreibung ausdrücklich gegeben wird, bei der Auslegung der Ansprüche zur Beurteilung der Patentierbarkeit außer Acht gelassen werden und, falls ja, unter welchen Bedingungen?

Die Vorlagefragen betreffen im Kern die Problematik, ob bei der Prüfung der Patentfähigkeit einer Erfindung, die den Gegenstand einer Patentanmeldung oder eines erteilten Patents bildet, grundsätzlich allein der Wortlaut eines Anspruchs zu berücksichtigen ist, wie er sich einem Fachmann unter Außer-Acht-Lassen der übrigen Teile der Anmeldung oder des Patents darstellt, oder ob hierzu der Sinngehalt des Patentanspruchs unter Berücksichtigung der gesamten Patentanmeldung oder des gesamten Patents zu ermitteln ist, also auch unter Berücksichtigung der Beschreibung und der Zeichnungen.

Der Gegenstand des der Vorlagefrage zugrunde liegenden Streitpatents betrifft, kurz zusammengefasst, einen beheizbaren, ein Aerosol erzeugenden Artikel. Der Anspruchssatz verwendet den auf dem Gebiet bekannten, technischen Begriff: „gathered sheet“. Zu diesem Begriff ist in der Beschreibung offenbart:

[0035] „As used herein, the term „gathered“ denotes that the sheet of tobacco material is convoluted, folded, or otherwise compressed or constricted substantially transversely to the cylindrical axis of the rod.“

Die Einspruchsabteilung stellte fest, dass der Begriff „gathered sheet“ in der Tabakindustrie eine klare und weithin anerkannte Bedeutung hat, nämlich im Sinne eines „sheet which was folded and convoluted to occupy a tri-dimensional space“. Diese Bedeutung ist jedoch gravierend enger als die in der Beschreibung enthaltene Definition.

Im Verfahren liegt eine Entgegenhaltung D1 vor, die nach Auffassung der vorlegenden Kammer einen Gegenstand offenbart, der neuheitsschädlich wäre, wenn die breitere Definition des Absatzes [0035] angewendet würde, nicht aber wenn das engere Verständnis bei isolierter Betrachtung der Ansprüche angewendet würde.

Die Beantwortung der Frage der Neuheit hängt also davon ab, ob die Definition der Beschreibung zu berücksichtigen ist oder nicht.

1.2. Die Positionen des BDPA

Der BDPA schlägt vor, die Vorlagefragen wie folgt zu beantworten:

Zu Frage 1:

Ja, der Artikel 69 (1), zweiter Satz EPÜ und das Protokoll über die Auslegung von Artikel 69 EPÜ sind entsprechend auf die Auslegung von Patentansprüchen anzuwenden, wenn die Patentierbarkeit einer Erfindung nach Artikel 52 bis 57 EPÜ beurteilt wird.

Zu Frage 2:

Ja, die Beschreibung und die Zeichnungen dürfen und müssen für die Auslegung der Ansprüche zur Beurteilung der Patentierbarkeit herangezogen werden. Dies darf und muss generell erfolgen.

Zu Frage 3:

Eine pauschale Ja/Nein-Antwort ist aus der Sicht des BDPA nicht angezeigt; denn – wie nachfolgend dargelegt – ist zur Beurteilung der Patentierbarkeit nach Artikel 52 bis 57 EPÜ der Sinngehalt eines Patentanspruchs unter Heranziehung des gesamten Offenbarungsgehalts zu ermitteln. Dies bedarf jedoch einer Prüfung des Einzelfalls und kann und sollte nicht abstrakt im Vorhinein in starren Regelungen festgelegt werden.

2. Begründung

2.1 Bedeutung und Bestimmung des Sinngehalts von Patentansprüchen

Die Vorlagefragen lassen sich nur beantworten, wenn man sich die Bedeutung und die Bestimmung des Sinngehalts von Patentansprüchen vor Augen führt. Eine europäische Patentanmeldung und ein europäisches Patent gewähren dem Inhaber alle Rechte, die sich aus einer vorschriftsmäßigen nationalen Anmeldung bzw. einem erteilten nationalen Patent ergeben (Artikel 66 EPÜ bzw. Artikel 2 (2) EPÜ). Maßgeblich hierfür ist insbesondere der Schutzbereich der Anmeldung bzw. des Patents, der auch in den nationalen Verfahren unter Berücksichtigung von Artikel 69 EPÜ zu bestimmen ist.

Gemäß Artikel 69 EPÜ werden der Schutzbereich des europäischen Patents und der europäischen Patentanmeldung durch die Patentansprüche bestimmt. Die Beschreibung und die Zeichnungen sind jedoch zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen. Die Patentansprüche legen also den Gegenstand einer europäischen Patentanmeldung bzw. eines europäischen Patents (Schutzgegenstand) fest, ausgehend von dem sich der Schutzbereich der Patentanmeldung erstreckt – auch auf solche Verletzungsformen, die nicht mehr als identisch mit dem Schutzgegenstand anzusehen sind, wie etwa äquivalente Verletzungsformen, unmittelbare Verfahrenserzeugnisse.

Im Folgenden werden zunächst die Begriffe „Schutzgegenstand“ und „Schutzbereich“ ausgehend von den Regelungen im EPÜ definiert. Anschließend werden Argumentationslinien entwickelt, die erkennen lassen, dass sowohl in Prüfungs- und Rechtsbestandsverfahren als auch in Verletzungsverfahren zwingend der Sinngehalt eines Patentanspruchs ermittelt werden muss, um ausgehend von dem durch den Patentanspruch und die Beschreibung sowie den Zeichnungen festgelegten Schutzgegenstand auch den diesem beizumessenden Schutzbereich festlegen zu können.

2.1.1 Schutzgegenstand

2.1.1.1. Schutzgegenstand einer europäischen Patentanmeldung

Die Artikel 52 – 57 EPÜ legen die inhaltlichen Anforderungen fest, die erfüllt sein müssen, damit eine Erfindung mittels eines europäischen Patents unter Schutz gestellt werden kann. Artikel 57 EPÜ setzt etwa voraus, dass der „Gegenstand der Erfindung“ auf irgendeinem gewerblichen Gebiet einschließlich der Landwirtschaft hergestellt oder benutzt werden kann.

Die Artikel 94 und 97 EPÜ legen fest, dass das Europäische Patentamt im Verlauf des Erteilungsverfahrens zu prüfen hat, ob die Patentanmeldung und die Erfindung, die sie zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des Übereinkommens genügt und ggf. ein europäisches Patent für diese Erfindung erteilt. Ferner ist in Artikel 83 EPÜ ebenfalls zum Ausdruck gebracht, dass die Erfindung in der europäischen Patentanmeldung (und nicht etwa nur in den Ansprüchen) deutlich und vollständig zu offenbaren ist. Schon daraus folgt, dass bei der Anwendung der Artikel 52 bis 57 EPÜ immer auch die Beschreibung und Zeichnungen zur Feststellung des Schutzbegehrens durch die Ansprüche heranzuziehen sind.

Die europäische Patentanmeldung darf nach Artikel 123 (2) EPÜ nicht in der Weise geändert werden, dass ihr Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglichen Fassung hinausgeht. Der Gegenstand der europäischen Patentanmeldung wird sowohl von der Beschreibung (einschließlich der Zeichnungen) als auch den Patentansprüchen definiert. Kein Teil der Anmeldung darf so geändert werden, dass neuer Sachverhalt hinzugefügt wird.

Artikel 84 verlangt, dass die Patentansprüche den Gegenstand angeben müssen, für den Schutz begehrt wird. Die Patentansprüche müssen nach dieser Norm deutlich und knapp gefasst sein und von der Beschreibung gestützt werden. Artikel 84 EPÜ darf nach der Auffassung des BDPA nicht derart eng und restriktiv ausgelegt werden, dass die Ansprüche im Erteilungsverfahren bzw. Änderungen der Ansprüche im Rechtsbestandsverfahren immer aus sich heraus und ohne Hinzuziehen der Beschreibung den Schutzgegenstand eindeutig beschreiben müssen. Dies ergibt sich bereits aus den in vielen Fällen einander zuwiderlaufenden Anforderungen einer einerseits deutlichen und andererseits knappen Formulierung. Häufig wird ein Kompromiss zu schließen sein zwischen „deutlich“ und „knapp“, so dass sich der durch einen Patenanspruch definierte Schutzgegenstand für einen Fachmann nur unter Berücksichtigung der Beschreibung und der Zeichnungen ergeben wird.

Aus den vorstehend dargestellten Verwendungen des Begriffs „Gegenstand der europäischen Patentanmeldung“ ist zu schlussfolgern, dass sich die Prüfung der Schutzfähigkeit des Gegenstands der Anmeldung auf die Anforderungen der Artikel 52 – 57 EPÜ nicht auf den bloßen Wortlaut der Merkmalskombination eines Patentanspruchs beschränken kann. Diese Prüfung muss sich nach den vorstehenden Erläuterungen auf die gesamte Anmeldung beziehen.

Damit ergibt sich der Schutzgegenstand einer europäischen Patentanmeldung nicht aus dem bloßen Wortlaut der Patentansprüche. Vielmehr ist jeweils der Wortsinn der Patentansprüche maßgebend, der mit den Augen eines Fachmanns unter Berücksichtigung der gesamten Anmeldung zu ermitteln ist, also auch unter Heranziehen der Beschreibung und der Zeichnungen.

Soweit im Erteilungsverfahren ein Begriff oder eine Formulierung eines Patentanspruchs als unklar oder mehrdeutig erkannt wird, sollte dies, falls möglich, mittels einer in der Beschreibung enthaltenen Definition klargestellt werden, wenn hierdurch nicht das Erfordernis einer knappen Fassung der Ansprüche verletzt wird.

Beinhaltet die Beschreibung keine knappe Definition des Begriffs, ergibt sich jedoch für den Fachmann dennoch ein eindeutiges Verständnis dieses Begriffs oder dieser Formulierung, so wäre es unangemessen, die Anmeldung wegen einer Verletzung des Artikel 84 EPÜ zurückzuweisen oder nur eine Erteilung mit einem eingeschränkten (nach der Auffassung des EPA jedoch ausreichend klaren) Schutzgegenstand zu gewähren. Dies würde dem Recht des Anmelders auf einen angemessenen Schutz seiner Erfindung zuwiderlaufen.

2.1.1.2. Schutzgegenstand eines europäischen Patents

Mit der Erteilung wird der für schutzfähig befundene Schutzgegenstand einer europäischen Patentanmeldung zu einem Schutzgegenstand eines europäischen Patents. Dieser kann in einem Rechtsbestandsverfahren (Einspruchsverfahren oder nationales Rechtsbestandsverfahren) auf seine Patentfähigkeit geprüft und ggf. geändert werden.

Artikel 100 EPÜ legt diesbezüglich fest, dass ein Einspruch u.a. darauf gestützt werden kann, dass der Gegenstand des europäischen Patents nach den Artikeln 52 – 57 EPÜ nicht patentfähig ist (Artikel 100 a) EPÜ) oder dass der Gegenstand des europäischen Patents über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglichen Fassung hinausgeht (Artikel 100 c) EPÜ).

Nach Artikel 101 3) EPÜ hat die Einspruchsabteilung zu prüfen, ob das europäische Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat (unter Berücksichtigung der vom Patentinhaber im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderungen), den Erfordernissen des Übereinkommens genügt oder nicht.

Artikel 138 EPÜ legt fest, dass ein europäisches Patent mit Wirkung für einen Vertragsstaat nur dann für nichtig erklärt werden kann, wenn der Gegenstand des europäischen Patents nach den Artikeln 52 bis 57 nicht patentierbar ist.

Werden im Einspruchsverfahren Änderungen vorgenommen, so greift auch hier wieder Artikel 84 EPÜ: Die Patentansprüche müssen den geänderten Gegenstand angeben, für den Schutz begehrt wird, und kurz und knapp gefasst sein.

Auch das europäische Patent darf nach Artikel 123 (2) EPÜ nicht in der Weise geändert werden, dass sein Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglichen Fassung hinausgeht. Der Gegenstand des europäischen Patents umfasst (auch) in dieser Norm sowohl die Beschreibung und die Zeichnungen als auch die Patentansprüche. Kein Teil der Anmeldung darf so geändert werden, dass neuer Sachverhalt hinzugefügt wird.

Aus den vorstehend dargestellten Verwendungen des Begriffs „Gegenstand des europäischen Patents“ ist wiederum zu schlussfolgern, dass sich die Prüfung der Schutzfähigkeit des Gegenstands des Patents auf die Anforderungen der Artikel 52 – 57 EPÜ nicht auf den bloßen Wortlaut der Merkmalskombination eines Patentanspruchs beschränken kann. Diese Prüfung muss sich nach den vorstehenden Erläuterungen auf das gesamte Patent beziehen.

Damit ergibt sich der Schutzgegenstand eines europäischen Patents nicht aus dem bloßen Wortlaut der Patentansprüche. Vielmehr ist jeweils der Wortsinn der Patentansprüche maßgebend, der mit den Augen eines Fachmanns unter Berücksichtigung des gesamten Patents zu ermitteln ist, also auch unter Heranziehen der Beschreibung und der Zeichnungen.

2.1.2 Schutzbereich

Das EPÜ definiert die Bestimmung des Schutzbereichs in Artikel 69 EPÜ, sowohl für ein erteiltes europäisches Patent als auch für eine veröffentlichte europäische Patentanmeldung. Demnach ist der Schutzbereich durch die Patentansprüche bestimmt. Die Beschreibung und die Zeichnungen sind jedoch zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen.

Bereits der Begriff „Schutzbereich“ impliziert, dass es sich hierbei um die Reichweite einer Patentanmeldung oder eines Patents im Fall der Geltendmachung von Rechten aus der Anmeldung oder dem Patent gegen Dritte handelt, die durch rechtswidrige Handlungen in den Schutzbereich des Patents eingreifen.

Das EPÜ erwähnt den Begriff des „Schutzbereichs“ außer in Artikel 69 EPÜ auch noch in Artikel 123 (3) EPÜ, wonach das europäische Patent nicht in der Weise geändert werden darf, dass sein Schutzbereich erweitert wird, und Artikel 138 (1) d) EPÜ, wonach ein europäisches Patent mit Wirkung für einen Vertragsstaat für nichtig erklärt werden kann, wenn der Schutzbereich des europäischen Patents erweitert worden ist.

Eine weitere Vorschrift des EPÜ, in welcher der Schutzbereich eine Rolle spielt, ist Artikel 64 (2) EPÜ, der bestimmt, dass sich der Schutz, wenn der Gegenstand des europäischen Patents ein Verfahren ist, auch auf die durch das Verfahren unmittelbar hergestellten Erzeugnisse erstreckt. Der Schutzbereich, der sich aus einem Verfahrensanspruch ergibt, umfasst demnach auch unmittelbare Verfahrenserzeugnisse.

Somit bestätigen auch diese Regelungen des EPÜ, dass der Begriff „Schutzbereich“ einer europäischen Patentanmeldung oder eines europäischen Patents die Reichweite des Schutzes bezeichnet.

2.1.3.   Schlussfolgerungen

Der Begriff „Schutzgegenstand“ bezeichnet die Erfindung, die mit der europäischen Patentanmeldung oder dem europäischen Patent unter Schutz gestellt werden soll bzw. ist.

Der Schutzgegenstand, also die Erfindung, muss die Anforderungen an die Patentfähigkeit nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ erfüllen und kann in Rechtsbestandsverfahren auf diese Anforderungen hin überprüft werden.

Der Schutzgegenstand ist nicht durch einen von den übrigen Teilen der Patentanmeldung oder des Patents losgelösten Wortlaut der Patentansprüche definiert.

Der Begriff „Schutzbereich“ bezeichnet die Reichweite eines Patents einschließlich äquivalenter Gegenstände und unmittelbarer Verfahrenserzeugnisse.

Voraussetzung für die Bestimmung des Schutzbereichs ist die Bestimmung des jeweiligen Schutzgegenstands; denn ohne die Bestimmung des Schutzgegenstands kann nicht entschieden werden, ob ein Äquivalent zu diesem Gegenstand oder ein unmittelbares Verfahrenserzeugnis vorliegt.

Bereits aus der Berücksichtigung dieser grundlegenden Erörterungen bzw. Definitionen für den Schutzgegenstand und den Schutzbereich einer veröffentlichten Patentanmeldung bzw. eines erteilten Patents resultiert unseres Erachtens zwingend die Schlussfolgerung, dass ein Patentanspruch generell unter Heranziehen der Beschreibung und der Zeichnung auszulegen ist.

2.2. Auslegung von Patentansprüchen ist zwingend erforderlich

Im Folgenden wird dargelegt, warum ein Patentanspruch aus der Sicht des BDPA zwingend der Auslegung unter Berücksichtigung der Beschreibung und der Zeichnungen bedarf.

2.2.1 Linguistische Argumentation

Grundsätzlich ist zu berücksichtigen, dass Sprache generell ein nur unvollkommenes Werkzeug zur Beschreibung komplexer technischer Sachverhalte ist. Ungeachtet der Bestrebungen der Anmelderin und der Prüfungsabteilung, einen Patentanspruch im Sinne der Anforderungen von Artikel 84 EPÜ möglichst eindeutig und unmissverständlich zu formulieren, kann nicht immer mit vollkommener Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Wortlaut von Patentansprüchen unter speziellen Gesichtspunkten mehrdeutig oder inkonsistent erscheinen mag. Denn es liegt in der Natur der Kommunikation mittels Sprache, dass ein Verfasser beim Formulieren einer Erklärung (wie etwa eines Patentanspruchs) in seinen Worten sowie ein Empfänger beim Erfassen dieser Erklärung diesen Worten unweigerlich jeweils Sinngehalte beimessen. Diese Sinngehalte sind jedoch nicht notwendigerweise identisch. Somit muss bei nicht identischer Auslegung im Prüfungsverfahren sowie auch nach einer Erteilung von Öffentlichkeit und den Institutionen in einer (abgestimmten) Fassung der Worte eine Auslegung des Wortlauts sowohl beim Verfasser als auch beim Empfänger stattfinden. Bei einer Patentanmeldung bzw. einem Patent erläutert der Verfasser sein Verständnis der Erfindung typischerweise in der Beschreibung. Der Empfänger, also die Öffentlichkeit, hat Einblick in die Beschreibung und jedenfalls die Möglichkeit, auf diesem Wege besser zu verstehen, was mit den Worten des Anspruchs gemeint sein soll. Eine Anspruchsauslegung, die sich einzig auf die Worte des Anspruchs stützt, wie er sich einem Fachmann unter Außer-Acht-Lassen der Beschreibung und der Zeichnungen erschließt, erscheint bereits aus der vorstehenden linguistischen Betrachtung nicht zielführend.

2.2.2    Einheitliches Vorgehen bei der Bestimmung von Schutzgegenstand und Schutzbereich

Artikel 69 EPÜ fordert für die Bestimmung des Schutzbereichs, dass der Sinngehalt eines Patentanspruchs unter Heranziehung der Beschreibung und der Zeichnungen ermittelt werden muss. Würde man bei der Prüfung der Schutzfähigkeit desselben Patentanspruchs dessen Sinngehalt unter Außer-Acht-Lassen der übrigen Teile der Patentanmeldung oder des Patents bestimmen, so kann dies zu unhaltbaren Ergebnissen führen.

Dies lässt sich am Beispiel des der Vorlageentscheidung zugrunde liegenden Patents verdeutlichen:

Bei Außer-Acht-Lassen von Beschreibung und Zeichnung wäre der betreffende Patentanspruch bzw. die durch den Anspruch beschriebene Vorrichtung infolge des engeren Verständnisses des Begriffs „gathered sheet“ als neu gegenüber dem Stand der Technik anzusehen. Das Patent würde in diesem Fall aufrechterhalten (zumindest dann, wenn dieser Unterschied auch als erfinderisch gegenüber dem Stand der Technik gemäß der D1 zu werten wäre). Zieht man jedoch die Beschreibung und die Zeichnungen heran, um den Sinngehalt des Patentanspruchs zu bestimmen, so wäre der Begriff „gathered sheet“ derart breit zu verstehen, dass der so ermittelte Schutzgegenstand des Patents durch die D1 neuheitsschädlich getroffen wäre.

Würde man also in Rechtsbestandsverfahren die Beschreibung und die Zeichnungen bei der Bestimmung des Sinngehalts eines Patentanspruchs, d.h. bei der Bestimmung des Schutzgegenstands, außer Betracht lassen und das Patent aufrechterhalten (bzw. eine Nichtigkeitsklage abweisen), müsste man in einem Verletzungsverfahren eine Patentverletzung bejahen, wenn eine Vorrichtung gemäß der D1 benutzt würde. Denn in einem Verletzungsverfahren muss gemäß Artikel 69 EPÜ der Schutzbereich des Patents unter Berücksichtigung der Beschreibung und der Zeichnungen bestimmt, dem Begriff „gathered sheet“ also folglich das breitere Verständnis gemäß Absatz [0035] unterlegt werden.

2.2.3 Vermeiden widersprüchlicher Ergebnisse in Einspruchsverfahren vor dem EPA

Ähnlich widersprüchliche Ergebnisse können sich auch innerhalb ein und desselben Verfahrens vor dem EPA, nämlich in einem Einspruchsverfahren nach dem EPÜ, ergeben. Eine Anspruchsänderung ist vor einer Prüfung der Schutzfähigkeit des Schutzgegenstands zunächst sowohl unter Berücksichtigung von Artikel 123 (2) EPÜ auf eine unzulässige Erweiterung des ursprünglichen Anmeldungsgegenstandes als auch unter Berücksichtigung von Artikel 123 (3) EPÜ auf eine unzulässige Erweiterung des Schutzbereichs gegenüber der erteilten Fassung zu prüfen.

Bei einer Prüfung der Zulässigkeit von Anspruchsänderungen unter Artikel 123 (2) EPÜ muss zwingend die gesamte Offenbarung herangezogen werden. Bei der sich anschließenden Prüfung der Schutzfähigkeit diese Offenbarung zu vernachlässigen und den zu prüfenden Schutzgegenstand auf den Wortlaut der Patentansprüche zu reduzieren, erscheint nicht nachvollziehbar.

Bei der Prüfung der Zulässigkeit von Änderungen nach Artikel 123(3) EPÜ ist zu untersuchen, ob die Handlung eines Dritten, die das Patent in der erteilten Fassung nicht verletzen würde, infolge einer Änderung nach der Erteilung zu einer Verletzungshandlung werden könnte (T 1149/97, ABl. EPA 2000, 259, EG 6.1.10). Bei der Prüfung der Frage, ob eine vorgeschlagene Änderung der Ansprüche den Schutzbereich erweitert, muss also zunächst der Schutzbereich des Patents vor der Änderung ermittelt werden. Es muss festgestellt werden, worauf der Schutz des Patents sich ohne Änderung bezieht, bevor entschieden werden kann, ob eine vorgeschlagene Änderung zu einer Erweiterung führt (G 2/88, ABl. EPA 1990, 93, EG 4).

Zur Bestimmung des Schutzbereichs muss Artikel 69 EPÜ angewandt werden. Die Beschreibung und Zeichnungen sind somit generell für die Auslegung der Ansprüche heranzuziehen. Wie vorstehend ausgeführt, muss bei der Bestimmung des Schutzbereichs jedoch zunächst der Schutzgegenstand bestimmt werden.

Bei der Prüfung der Zulässigkeit von Anspruchsänderungen unter Artikel 123 (3) EPÜ müsste man somit zunächst den ursprünglichen und den geänderten Schutzgegenstand ohne Heranziehen der Beschreibung und der Zeichnungen ermitteln und anschließend den jeweils durch den betreffenden Schutzgegenstand festgelegten Schutzbereich unter Heranziehen der Beschreibung und der Zeichnungen. Dies erscheint unlogisch und birgt die Gefahr unhaltbarer Ergebnisse abhängig von den Umständen des Einzelfalls.

2.2.4 Harmonisierung der Ergebnisse von Rechtsbestandsverfahren

Die Zuständigkeit für das Verfahren zur Prüfung europäischer Patentanmeldungen und für Einspruchs- und Beschränkungsverfahren liegt exklusiv beim Europäischen Patentamt. Für Verfahren betreffend die Verletzung von europäischen Patenten (oder veröffentlichten europäischen Patentanmeldungen) sind exklusiv Gerichte der EPÜ-Vertragsstaaten bzw. das EPG zuständig. Weiterhin sind die nationalen Gerichtsbarkeiten bzw. das EPG auch für Rechtsbestandsverfahren für europäische Patente mit Wirkung für die jeweiligen Vertragsstaaten bzw. für Patente mit einheitlicher Wirkung zuständig.

Die Schaffung des EPG erfolgte nicht zuletzt aus dem Grund, dass ein einheitlicher Patentschutz für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union erreicht werden soll.

Es ist generell für die Nutzer des europäischen Patentsystems auf der Basis des EPÜ (inklusive des ebenfalls hierauf basierenden Einheitspatentsystems) wünschenswert, dass sowohl das EPA als auch die nationalen Gerichtsbarkeiten sowie das EPG in Verfahren, in denen dieselben Rechtsfragen zu beantworten sind, zu möglichst denselben Ergebnissen gelangen. Das EPA und die nationalen Gerichtsbarkeiten bzw. das EPG sollten somit dieselben Grundsätze bei der Bestimmung des Sinngehalts eines Patentanspruchs anwenden.

Dies ist zum Nachteil sowohl der Nutzer des europäischen Patentsystems als auch der Öffentlichkeit derzeit leider nicht gewährleistet.

Wie in der Vorlageentscheidung dargestellt, besteht hinsichtlich der Bestimmung des Sinngehalts von Patentansprüchen bei den Spruchkörpern des EPA keine einheitliche Vorgehensweise. Vielfach wird eine Auslegung von Patentansprüchen und/oder eine Berücksichtigung von Beschreibung und Figuren nur dann zugelassen, wenn die Ansprüche aus Sicht des Fachmanns Unklarheiten oder Mehrdeutigkeiten aufweisen.

Demgegenüber ist es ständige Praxis der deutschen Gerichtsbarkeit, in Nichtigkeitsverfahren betreffend europäische Patente mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland (und auch in Verletzungsverfahren), den Sinngehalt eines Patentanspruchs in jedem Fall unter Berücksichtigung der Beschreibung und der Zeichnungen zu bestimmen, d.h. eine Auslegung des Patentanspruchs unter Berücksichtigung des gesamten Offenbarungsgehalts des Patents vorzunehmen. Siehe beispielsweise BGH GRUR 1999, 909 (911) – Spannschraube, BGH GRUR 2015, 1095 Rn. 13 – Bitratenreduktion, BGH GRUR 2012, 1124 Rn. 27 – Polymerschaum I, BGH GRUR 2011, 701 – Okklusionsvorrichtung.

Dieselbe Vorgehensweise findet sich in der Rechtsprechung Großbritanniens wieder. Beispielsweise wird in der Entscheidung Catnic Components Ltd. v. Hill & Smith Ltd. [1982] R.P.C. 183 darauf abgestellt, dass für die Auslegung des Patentanspruchs maßgeblich ist, wie der Fachmann die Patentschrift als Ganzes, also auch unter Berücksichtigung der Beschreibung, versteht.

 „My Lords, a patent specification is a unilateral statement by the patentee, in words of his own choosing, addressed to those likely to have a practical interest in the subject matter of his invention (i.e. „skilled in the art“), by which he informs them what he claims to be the essential features of the new product or process for which the letters patent grant him a monopoly. […] A patent specification should be given a purposive construction rather than a purely literal one derived from applying to it the kind of meticulous verbal analysis in which lawyers are too often tempted by their training to indulge. The question in each case is: whether persons with practical knowledge and experience of the kind of work in which the invention was intended to be used, would understand that strict compliance with a particular descriptive word or phrase appearing in a claim was intended by the patentee to be an essential requirement of the invention so that any variant would fall outside the monopoly claimed, even though it could have no material effect upon the way the invention worked.”

Auch die Berufungsinstanz des EPG hat sich in ersten Entscheidungen dieser Praxis angeschlossen und bestimmt den Sinngehalt eines Patentanspruchs und damit den Schutzgegenstand eines Patents sowohl in Rechtsbestandsverfahren als auch in Verletzungsverfahren durch Auslegung unter Heranziehen der Beschreibung und der Zeichnungen. Ein Beispiel hierfür ist die Entscheidung Nanostring v 1Ox Genomics (UPC_CoA_335/2023, App_576355/2023) vom 26 Februar 2024, wonach es für die Auslegung eines Patentanspruchs nicht allein auf seinen genauen Wortlaut im sprachlichen Sinne ankommt. Vielmehr sind die Beschreibung und die Zeichnungen als Erläuterungshilfen für die Auslegung des Patentanspruchs stets mit heranzuziehen und nicht nur zur Behebung etwaiger Unklarheiten im Patentanspruch anzuwenden. Ein weiteres Beispiel ist die Entscheidung VusionGroup v Hanshow (APL_ 8/2024, ORD_17447/2024) vom 13. Mai 2024 wonach Anspruchsmerkmale immer im Lichte des gesamten Anspruchs auszulegen sind.

Da die deutsche Gerichtsbarkeit, die Gerichtsbarkeit in Großbritannien und das EPG zusammen den bei weitem größten Teil aller Nichtigkeitsverfahren gegen europäische Patente (mit Wirkung für die jeweiligen Vertragsstaaten) handhaben, erachtet es der BDPA als sinnvoll, dass sich auch das Europäische Patentamt hinsichtlich der Bestimmung des Sinngehalts von Patentansprüchen der Praxis dieser Gerichtsbarkeiten anschließt.

Andernfalls würde der bisherige Zustand aufrechterhalten, der regelmäßig dazu führt, dass die Spruchkörper in nationalen Rechtsbestandsverfahren zu anderen Ergebnissen gelangen als die Einspruchsabteilung und die Beschwerdekammern des EPA.

2.2.5 Bisherige einschlägige Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer

Wie die vorlegende Kammer in Abschnitt 3.2 der Vorlageentscheidung ausführt, hat die Große Beschwerdekammer bereits in ihren Entscheidungen G2/88 und G6/88 klargestellt, dass die dem Artikel 69 EPÜ zugrundeliegenden Grundsätze auch bei der Prüfung der Schutzfähigkeit von Patentansprüchen gemäß den Artikeln 52 bis 57 EPÜ anzuwenden sind.

So wird etwa in Abschnitt 3 der zu Artikel 54 EPÜ ergangenen Entscheidung G6/88 ausgeführt:

„Die Auslegung der Ansprüche zur Bestimmung ihrer technischen Merkmale ist gemäß Artikel 69 (1) EPÜ und dem dazu ergangenen Protokoll vorzunehmen.“

In Abschnitt 7.1 wird dort ausgeführt (nach Übersetzung wortgleich mit G2/88, dort Abschnitt 9.1):

„… Diese Auslegungsweise steht nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer in Einklang mit dem Ziel und dem Zweck des Protokolls über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ.

Wenn ein solcher Anspruch bei richtiger Auslegung im Gesamtzusammenhang des Patents ein funktionelles technisches Merkmal enthält, so muß noch geklärt werden, ob die auf diese Weise beanspruchte Erfindung neu ist.“

Die nach in Artikel 69 EPÜ definierte Auslegungsweise wird hier offensichtlich auch bei der Prüfung der Schutzfähigkeit, insbesondere der Prüfung der Neuheit, angewendet.

Es sei bemerkt, dass die Entscheidung G6/88 als Folge einer Anmelderbeschwerde ergangen ist, also direkt die Auslegung von Patentansprüchen in Prüfungsverfahren betrifft. Die Entscheidung G2/88 trifft die inhaltlich entsprechenden Feststellungen für das Einspruchsverfahren.

Die Große Beschwerdekammer hat somit bereits in diesen Entscheidungen klargestellt, dass der Auslegungsgrundsatz des Artikel 69 EPÜ auch bei der Prüfung der Schutzfähigkeit anzuwenden ist, und zwar sowohl im Prüfungsverfahren als auch im Einspruchsverfahren.

Diese Entscheidungen gerieten offensichtlich bei Teilen des EPA und der Beschwerdekammern in Vergessenheit und es hat sich eine divergierende Spruchpraxis entwickelt. Da sich seit damals die insoweit relevanten Normen des EPÜ nicht maßgeblich geändert haben, ist unsererseits nicht erkennbar, warum sich die im vorliegenden Verfahren zutreffende Entscheidung von dem damaligen Ergebnis abkehren sollte.

3. Zusammenfassung

Nach Ansicht des BDPA besteht aus den vorstehend erläuterten Gründen eine absolute Notwendigkeit, den Gegenstand und den Schutzbereich einer europäischen Patentanmeldung oder eines europäischen Patents in allen Verfahren, in denen eine europäische Patentanmeldung oder ein europäisches Patent betroffen sind, mit derselben Herangehensweise zu bestimmen.

Nachdem Artikel 69 die Berücksichtigung der gesamten Patentanmeldung bzw. des gesamten Patents für die Bestimmung des Schutzbereichs festlegt, muss der Schutzgegenstand, welcher den Ausgangspunkt für den Schutzbereich darstellt, ebenfalls in derselben Art und Weise bestimmt werden. Die Ermittlung des Schutzgegenstands und des Schutzbereichs einer Anmeldung oder eines Patents unter Zugrundelegung unterschiedlicher Auslegungsprinzipien birgt die Gefahr widersprüchlicher und unhaltbarer Ergebnisse.

Zudem erfordern auch die Artikel 94 und 97 EPÜ für das Erteilungsverfahren und Art. 100 EPÜ für das Einspruchsverfahren die Prüfung der gesamten Patentanmeldung bzw. des gesamten Patents dahingehend, ob der jeweilige Gegenstand nach den Artikeln 52 bis 57 patenfähig ist. Auch diese Regelungen stehen einem Außer-Acht-Lassen der Beschreibung und der Zeichnungen bei der Bestimmung und Prüfung des Schutzgegenstands entgegen.

Die Stellungnahme wurde erarbeitet vom BDPA-Ausschuss für Patentrecht unter Mitwirkung der Patentanwälte Thomas Bürvenich, Jan Goering, Rolf Lechner, Sascha Putzke, Dirk Schulz.